Montag, 16. August 2021

Über Afghanistan - vor einem Jahr

 


Dieses Interview mit dem geschätzten Kommilitonen H. P. und ehemaligen Bundeswehrsoldaten entstand vor einem Jahr. Leider wurde es aus Gründen seiner Identitätsgeheimhaltung bislang nicht veröffentlicht. Die gegenwärtige Situation, das fundamentale Scheitern von ISAF und der atemberaubend schnelle Vormarsch der Taliban, waren zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar.


Ein Blick aufs Handy: 164 Neuinfektionen für heute, 30. April bei 2335 fällen insgesamt und 68 Todesfällen - das ist natürlich Quatsch. „Wobei die meisten Fälle mit 499 in Herat tatsächlich realistisch sind, weil es an der iranischen Grenze liegt. Es gibt keine ernstzunehmenden technischen Möglichkeiten für Tests, vom Budget für die Testkits für 150 $ ganz zu schweigen“, meint H. P.


Über das Land


Afghanistan ist von Land umschlossen, es gibt keinen direkten Anschluss zum Seeweg, das Verhältnis zum Nachbar Pakistan ist denkbar ungünstig. Das Grenzland Richtung Iran ist Wüste, gen Osten liegt der Hindukusch mit einigen 7000ern. Hinzu kommt ein relativ hohes Lohnniveau durch ausländische Zuflüsse. Wirtschaftlich erwähnenswert ist eigentlich nur die Drogenökonomie, der die unzugängliche Bergregion als Rückzugsgebiet sogar sehr entgegenkommt und das Teppichknüpfen, dessen Produkte dann im Iran als Perserteppich verkauft werden - „ganz gute Handarbeit“, meint H.P. Ansonsten sei das wirtschaftliche Potenzial von Afghanistan eher mau, selbst wenn die Lohnkosten der regionalen Mitbewerber unterboten werden würden, die Transportwege in Afghanistan seien denkbar schlecht.

Bis zur Herrschaft der Taliban gab es die Spinzar Baumwollfabrik im Kunduz, Arbeitgeber mehrerer Tausender in der Region. Die Eigentümerfamilie lebt inzwischen in Deutschland. Von Seiten der Bundesregierung gab es das Ansinnen, die Teil zerstörte Fabrik unter der Leitung der Eigentümerfamilie wieder aufzubauen um die Wirtschaft der Region anzukurbeln. "Die ehemaligen Eigentümer winken ab, lohnt sich nicht", sagt der ehemalige Kundschafter. Es gibt insgesamt für den Flughäfen, außer Kabul als internationaler Flughafen wird noch Masar-i-Scharif von Turkish Airlines aus Istanbul angeflogen.


ISAF


Nach der Frage nach der Zeit vor den Taliban, als Kabul europäisch geprägt und sogar Teil der Hippie Route nach Indien war. H. P. winkt ab. "Das Foto der Afghanin im Petticoat - das war nie eine gesellschaftliche Realität, das lebte höchstens eine sehr sehr kleine Elite. Afghanistan ist ein Extrembeispiel für Stadt-Land-Gefälle. Entlang der Seidenstraße findet man ein paar Städte, auf dem Land leben die Menschen traditionell. Afghanistan war nie ein modernes Land“, H.P. zögert kurz: „die internationale Gemeinschaft hat bei Afghanistan versagt." Da ist es wieder, das alte Thema: Sinn und Strategie des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr. „Der Auftrag von ISAF war nicht die Verbesserungen des Landes, sondern die Rahmenbedingungen an Sicherheit und Stabilität für einen Spielraum zu schaffen. Dieser Spielraum wurde von Auswärtigen Ämtern und anderen Behörden nicht erfolgreich genutzt, aus dem einfachen Grund, weil deren klassischen Arbeitsmittel hier versagen. Wenn man im Vergleich den Wiederaufbau von Ex-Jugoslawien betrachtet, dann ist wenigstens noch der Staatsapparat unter Tito im Bewusstsein, einen Staat in diesem Sinne gab es in Afghanistan nie", macht H. P. klar.


Demokratie Afghaniye


Man könnte gewissermaßen sagen, die Gesellschaft ist basisdemokratisch, aber es ist ein Patronagesystem, nur so wahnsinnig obrigkeitshörig sind sie nicht. Die lokale Miliz untersteht einem Warlord der wiederum mit einem Politiker in Kabul in Verbindung steht. Dieses Netzwerk ist aber alles andere als konsistent. Neue Bündnisse werden geschlossen und Loyalität ist temporär. Das beste Beispiel dafür war die Ermordung Al Rabbanis, was ein politisch, religiös und wirtschaftliches Erdbeben nach sich zog - ein Netzwerk aus Gefälligkeiten. "Als positive Entwicklung kann man die Schura betrachten,in der zumindest Männer jeden Alters über Politik sprechen können, die traditionelle Dschirga ist nur den ältesten vorbehalten. Frauen bleiben hier auch weiter außen vor.

Die Rolle der Ethnien sieht H.P. nachrangig: „Natürlich bilden sich die Netzwerke entlang der Ethnien, genauer eigentlich der Clans, aber vom ethnischen Konflikt der gerne herangezogen wird, kann keine Rede sein. Es gibt doch schon allein unter den Pashtunen Netzwerke mit Konkurrenz, Konflikten, Bündnissen und Patronagesystem. Man stellt auch fest, dass dieses im Rahmen der Möglichkeiten funktioniert, es gibt den Trickle-down-effekt, der ist halt nur sehr shady. Jegliche Versuche staatlicher Strukturen enden an der Stadtgrenze und sowohl Bildung wie Sicherheit als Beispiel liegen bei den Koranschulen bzw. den Milizen. „Wenn die Bevölkerung etwas bei diesen ganzen Maßnahmen gelernt hat, dann dass der Staat negativ ist und im Zweifelsfall nur Geld haben will."

Auf die Frage, ob es nicht Phasen eines funktionierenden Staates in der Geschichte gab, woraus man Strategien zum Nation-Building gewinnen könne, verneint er, bzw. verweist auf die Herrschaft der Safawiden im 17. Jahrhundert. Der Blick auf die historische Karte zeigt, dass die Umstände damals andere waren und das Reich bis zum indischen Ozean ging. "In den 20er, 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ stabile Elite des Landadels, durchaus vergleichbar mit dem preußischen. Diese fungierten als Bindeglied zwischen der Bevölkerung und Kabul und waren allgemein anerkannt. Dann kamen die Kommunisten, enteigneten diese Elite und destabilisierten so die ganze Gesellschaft, worunter besonders die Arbeiter litten, die ist doch zu befreien galt. Der Staat ist bis heute ineffizient und quasi nicht vorhanden."


Corona in Afghanistan


Die Gesellschaft könne mit Corona nicht umgehen. Für viele sei diese Krankheit eine Strafe Gottes, die im Zweifelsfall von den Ausländern eingeschleppt wurde. Natürlich ist auch eine Intensivversorgung nicht vorhanden. Allein schon Zusammenhänge mit Arbeitspendlern in den Iran und zurück werden da gar nicht berücksichtigt. Quarantänekonzepte wie in den Nachbarländern funktionieren nicht, da durch den Mangel an Information das Familienleben hochgehalten wird und im Zweifelsfall die Familie einen erkrankten bei sich versteckt hält und damit ist die Durchseuchung natürlich enorm. "Eine Corona-Erkrankung gilt als ehrabschneidend und rufschädigend und wird vor der Gesellschaft tabuisiert. Auf der anderen Seite ist die Gesellschaft natürlich sehr jung, was das Ausmaß der Pandemie beeinflusst. Die Bundeswehr hat in Afghanistan die Interaktion auf ein Minimum gesetzt mit rund 1000 Soldaten bei gegenwärtiger Mandatsobergrenze von 1300 Mann. "Dazu handelt die iranische Regierung im Vergleich wirklich professionell mit der Krankheit, allein schon was verlässliche Zahlen betrifft."

 

Taliban an der Macht? 

 

Auf die Frage nach seiner Einschätzung zum Friedensschluss mit den Taliban, die gegenwärtig auch großes Thema ist schmunzelt H. P.:„Angesichts des Kampfes zwischen den beiden Politikern Ghani und Abdullah wird ihnen wohl schwerlich anderes übrig bleiben." Tatsächlich sieht H.P. die Taliban besser als ihr Ruf, wenn auch mit Unbehagen. Denn für ihn imitieren die Warlords lediglich Stammesstrukturen, während die Taliban einen wahhabistischen mit pakistanischen deobandi-eingefärbten Kurs fahren. "Das sind auch nicht mehr die Taliban von 2004. Für einen großen Teil der Bevölkerung sind die Taliban die stabilste Lösung auf dem Land. Tatsächlich sind die Taliban die Law & order Partei. Die Herrschaft der Warlords ist unzuverlässig, Recht bekommt beispielsweise der, der am meisten bezahlt. Bei den Taliban weiß der Bauer hingegen, wie viel Steuer er am Ende des Monats zu bezahlen hat.

Die Taliban habe beispielsweise das Buzkashi, das Ziegenziehen, ein afghanischer Volkssport, bei dem eine tote Ziege oder ein Kalb von Reitern im Wettkampf zerfleddert wird, aber auch das Bacha Bazi, die unter Warlords wieder in Mode gekommene Päderastie, als unislamisch verboten, „Alkohol, Musik, Glücksspiel und Prostitution selbstredend auch. Bei Opium ist die Sache ein bisschen anders, war der Anbau unter der Herrschaft der Taliban streng verboten, bei Zuwiderhandlung Kopf ab, verdienen jetzt die Taliban ebenfalls daran. Problematischer ist die Talibanherrschaft für die Stadtbevölkerung, die durch den westlichen Kontakt immerhin mit Bildung auch für Frauen, für eine bestimmte Elite Reisefreiheit, aber ganz sicher durch das politische Gespräch in Konflikt mit den Taliban käme. Eine Herrschaft unter den Taliban? Zunächst murmelt er ein Zitat von Joseph de Maistre „Jedes Volk hat die Regierung die es verdient."

Tatsächlich könne er sich aber eine Konsolidierung unter den Taliban vorstellen. „Ein Talibanregime wäre zumindest operabel, eben pashtunisch traditionell." Sukzessive Frauenrechte sähe er dann aber auch langfristig nicht.

Auf die Frage nach persönlichen Kontakten und Eindrücken als Kundschafter bei der Bundeswehr zögert er nachdenklich: „Afghanistan ist ein spannendes und interessantes Land, da möchte ich bei bleiben. Die Zusammenarbeit mit Einheimischen war grundsätzlich problemlos. Trotzdem ist das Standing als Ausländer denkbar schlecht. Man gilt als Ursache der gesellschaftlichen Polarisierung und Instabilität. Das ist auch nicht falsch. Das war nur schon mit dem Einzug der Kommunisten so. Während es in Kabul Stadtteile gibt mit sozialismustypischen Plattenbauten ist der Kommunismus auf dem Land nie angekommen. Und dann muss sagen, dass die Notwendigkeit sich auf das wirtschaftliche Fortkommen zu konzentrieren, weit vor jedem freundschaftlichen Kontakt stand.“





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