Prenzlauer Berg.JS Der libysche junge Mann humpelt in unsere
Wahlstation. Ich begrüße ihn freundlich auf Arabisch und heiße ihn willkommen,
bevor ich ihn darum bitte, mir seinen rechten Zeigefinger zu zeigen.
Verunsichert kramt er in seinen Taschen nach seinem Reisepass. Er ist
irritiert, weil ich als Deutscher mit ihm Arabisch spreche und weil ich, warum
auch immer, seinen Zeigefinger sehen möchte. Ich überlege, wie ich ihm den
Grund erkläre, da hilft mir unser Station Manager Mansour, Muttersprachler, der
ihm erklärt dass ich wirklich den Zeigefinger und nicht den Reisepass sehen
möchte. Nur so können wir prüfen, ob er bereits gewählt hat. Ich arbeite als
Queue Controller bei der Libyschen Wahl.
Vom 3.
bis zum 7. Juli trafen in eine bis vor kurzem noch verlassene Schule im
Prenzlauer Berg am Rosa Luxemburg Platz eine Vielzahl von Libyern aus der
ganzen Bundesrepublik ein, um für die ersten freien libyschen Wahlen ihre
Stimme abzugeben. Berlin war neben London, Ottawa, Amman, Dubai und Washington
DC eine der Stationen für das Out of Country voting. Jetzt, gut ein Jahr nach
Sturz von Gaddafi, macht das libysche Volk seine erste Wahl seit über 40
Jahren, de facto also für Viele die erste Wahl überhaupt im Leben.
by J. Tahawokh |
by J. Tahawokh |
Nachdem
am ersten Tag die Wahlgänger noch sehr vereinzelt erschienen, steigerte sich
die Zahl bis zum finalen Wahltag am Samstag stetig. Familien kamen, Kinder und
Kinderwagen wurden mit der neuen, alten libyschen Flagge verziert. Fast jeder
ließ sich, während er seine Wahlzettel in die Urne warf, mit seiner Handykamera
fotografieren und reckte stolz seinen gefärbten Finger in die Luft. Sehr
berührend waren die Momente, wenn die Wahlstation von Kriegsverletzten besucht
wurde, die hier in der Charité und anderen Krankenhäusern in Deutschland behandelt
wurden. Etliche junge Männer kamen mit Armprothesen, an Krücken und im Rollstuhl
um ihre Stimme abzugeben. Ein Mann brach nach seiner Stimmabgabe in Tränen aus
und konnte sich für Minuten nicht beruhigen. Er lachte und strahlte während die
Tränen seine Wangen hinunterliefen. Noch eine andere Geschichte machte die
Runde durch das Wahlzentrum. Ein Mann war aus Bratislava 1400 Kilometer
gefahren, um seine Stimme abzugeben. Er wurde unverrichteter Dinge wieder nach
Hause geschickt. Er war mit seinem Unterlagen gekommen, die zwar seine
Identität bestätigten, nicht aber seine libysche Herkunft.
Er muss wohl sehr erbost über diese Entscheidung gewesen sein und drohte hierüber
Meldung machen zu wollen.
Am
Samstag, dem letzten Tag der Wahl, kamen an die 500 Libyer aus der gesamten Bundesrepublik
zum Wählen. Irgendwie kannten sich alle, man kam sich vor wie bei einer großen
Familienfeier. Um 18 Uhr wurden die Wahllokale geschlossen und wir bereiteten
uns auf das Auszählen der Stimmen vor. Nach 19 Uhr kam aber noch eine Gruppe
Libyer extra aus Frankfurt am Main angereist,
die unterwegs im Verkehr stecken geblieben waren. Sie waren äußerst verärgert,
nachdem sie erfuhren, dass sie keine Möglichkeit zur Wahl mehr hatten. Das
Sicherheitspersonal, Männer wie Kleiderschränke, hatte alle Hände voll zu tun.
Zu guter Letzt kam der oberste Verantwortliche von der libyschen Wahlkommission
und redete mit der Gruppe, die daraufhin irgendwann abzog.
Die
Zählung, ein besonders wichtiger und sensibler Moment, verlief hingegen sehr
erfolgreich. Alle Zahlen stimmten, alle Wahlzettel lagen vor und wir waren nach Mitternacht soweit fertig: alle Wahlzettel ausgewertet, alle Formalitäten ausgefüllt und
alle Materialien, wie Stimmzettel, Registrierungsbücher, formgerecht verpackt
und abreisefertig nach Libyen.
Nun
müssen wir abwarten, wie die Wahl insgesamt verlaufen ist. Es bleibt die große
Hoffnung, dass das libysche Volk mit dieser Wahl einen ersten wichtigen Schritt
zu einer stabilen, demokratischen Regierung gemacht hat.
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