Mitte.JS Sonntagmittag im Juli, 50.000
Leute auf dem Bebelplatz vor der Humboldt- Universität, fast ebenso viele Campingklappstühle,
sind in freudiger Erwartung auf eines der musikalischen Topereignisse die die
Hauptstadt für seine Bewohner bereithält. Zum sechsten Mal lockte die Berliner
Staatskapelle, mit ihrem Chefdirigenten Daniel Barenboim die Massen zu „Staatsoper
für alle“, dieses Jahr mit Tchaikowskys erstem Klavierkonzert und dessen vierter
Sinfonie. Solist war Yefim Bronfman, Pianist von Weltrang.
Allerdings gehört zu dieser
liebgewonnenen Tradition auch noch andere sinnliche Erfahrungen: Es ist ganz
schwer auszumachen, was lästiger ist: Da gibt es diejenigen, die zehn Minuten
vor Konzertbeginn erscheinen und meinen, sich noch in die vordesten Reihen drängeln
zu müssen und bei der Wahl ihrer Position wenig auf die Menschen in ihrer
unmittelbaren Umgebung, sodass man im besten Fall als sitzender Kunstgenießer
einen breiten Hintern direkt vor dem Antlitz hat. Ebenso, wenn nicht gar noch
mehr nervig sind allerdings diejenigen, die augenscheinlich durch die
Menschenansammlung in Mitte leicht verwirrt, das Konzert mit einer Antiatomdemo
verwechseln und auch nicht aufhören gegen die „Steher“ zu skandieren, auch wenn
der Maestro bereits den Taktstock anhebt. Es besteht zwar der Verdacht, dass
auch dies als Gewohnheit zu dieser Tradition zählt, aber, Herrgott, man muss
doch nicht alles tradieren.
So peinlich dies, so faszinierend
war die gehörte Musik: Das erste Klavierkonzert ist wohl eines der
meistgespielten Werke aus der romantischen Epoche. Jeder sollte es schon mal
gehört haben und es lässt sich prima nachpfeifen. Gerne wird insbesondere der
Anfang, aber auch schon mal das ganze Stück kraftvoll- schmissig und mächtig
wie eine musikalische Buttercremetorte aufgeführt. Die Staatskapelle und Yefim Bronfman jedoch,
lieferten ein Klavierkonzert, das zwar kraftvoll, dabei aber filigran war,
sodass durch das virtuose Spiel die Raffinesse der Komposition hervortrat,
anstelle von gefälligem Tonmatsch. Die Intensität war so groß, dass selbst nach
dem 5001. Mal das erste Thema, jene berühmten siebeneinhalb Oktaven große
Akkordbögen gänsehautauslösend waren. Hoffentlich nahmen die Künstler den frenetischen
Applaus nach dem ersten Satz weniger als störende Unterbrechung, denn als
begeistertes Kompliment ihres Publikums wahr. Nach dem leichten, kapriziösen 2.
Satz, wie auch dem tänzerischen, folkloristischem 3. Satz ernteten das
Orchester, Daniel Barenboim und Solist Yefim Bronfmann, stehende Ovation und die sicht- und hörbare Begeisterung ihres
Publikums, worauf sich der Pianist mit einer Zugabe revanchierte.
Fast so berühmt, wenn nicht gar
genauso ist Tchaikovskys 4. Sinfonie, die der Komponist seiner Mäzenin Nadeshda
von Meck widmete. Auch hier präsentierte die Staatskapelle allerbestes. Berühmt
ist diese Sinfonie für ihre schicksalshaften Fanfaren die am Anfang und
innerhalb des Stücks unheilvoll-bedrohlich schmettern. Es gelang das teilweise
sehr melancholische Werk mit einer Leichtigkeit zu spielen und trotzdem Gefühl
und Intensität maximal zu vermitteln. Dies ist in erster Linie der außergewöhnlichen
Präzision und Virtuosität der Musiker geschuldet.
Nach dem wiederholt begeisterten
Applaus nutzte Barenboim die Gelegenheit eine ganz eigene Occupymessage an das
Publikum zu richten. Bekanntermaßen wird ja nicht nur der Berliner Flughafen
nicht fertig, nein auch die Fertigstellung der Oper unter den Linden lässt bis
auf weiteres auf sich warten. Er beschrieb, wie wohl Wasser unter dem Holz des
Fundaments gefunden wurde und problematisch ist, in einer Parkgarage in der Nachbarschaft
wäre sowas gar keine Frage. Final forderte er die Berliner auf: „Helft mir alle
zusammen zu kämpfen gegen diese Inkompetenz“. Seine Bestätigung erhielt er
50.000-stimmig. Nicht nur hier wurde am Sonntag mal wieder sehr deutlich, dass zwischen
Daniel Barenboim und den Berlinern eine ganz besondere Beziehung besteht,
die nicht so einfach abgekühlt werden kann, wie der kleine Regenschauer ab dem
3. Satz der Sinfonie bewies.
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