Sonntag, 1. Juli 2012

Occupy und Tchaikowsky



Mitte.JS Sonntagmittag im Juli, 50.000 Leute auf dem Bebelplatz vor der Humboldt- Universität, fast ebenso viele Campingklappstühle, sind in freudiger Erwartung auf eines der musikalischen Topereignisse die die Hauptstadt für seine Bewohner bereithält. Zum sechsten Mal lockte die Berliner Staatskapelle, mit ihrem Chefdirigenten Daniel Barenboim die Massen zu „Staatsoper für alle“, dieses Jahr mit Tchaikowskys erstem Klavierkonzert und dessen vierter Sinfonie. Solist war Yefim Bronfman, Pianist von Weltrang.

Allerdings gehört zu dieser liebgewonnenen Tradition auch noch andere sinnliche Erfahrungen: Es ist ganz schwer auszumachen, was lästiger ist: Da gibt es diejenigen, die zehn Minuten vor Konzertbeginn erscheinen und meinen, sich noch in die vordesten Reihen drängeln zu müssen und bei der Wahl ihrer Position wenig auf die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung, sodass man im besten Fall als sitzender Kunstgenießer einen breiten Hintern direkt vor dem Antlitz hat. Ebenso, wenn nicht gar noch mehr nervig sind allerdings diejenigen, die augenscheinlich durch die Menschenansammlung in Mitte leicht verwirrt, das Konzert mit einer Antiatomdemo verwechseln und auch nicht aufhören gegen die „Steher“ zu skandieren, auch wenn der Maestro bereits den Taktstock anhebt. Es besteht zwar der Verdacht, dass auch dies als Gewohnheit zu dieser Tradition zählt, aber, Herrgott, man muss doch nicht alles tradieren.

So peinlich dies, so faszinierend war die gehörte Musik: Das erste Klavierkonzert ist wohl eines der meistgespielten Werke aus der romantischen Epoche. Jeder sollte es schon mal gehört haben und es lässt sich prima nachpfeifen. Gerne wird insbesondere der Anfang, aber auch schon mal das ganze Stück kraftvoll- schmissig und mächtig wie eine musikalische Buttercremetorte aufgeführt.  Die Staatskapelle und Yefim Bronfman jedoch, lieferten ein Klavierkonzert, das zwar kraftvoll, dabei aber filigran war, sodass durch das virtuose Spiel die Raffinesse der Komposition hervortrat, anstelle von gefälligem Tonmatsch. Die Intensität war so groß, dass selbst nach dem 5001. Mal das erste Thema, jene berühmten siebeneinhalb Oktaven große Akkordbögen gänsehautauslösend waren. Hoffentlich nahmen die Künstler den frenetischen Applaus nach dem ersten Satz weniger als störende Unterbrechung, denn als begeistertes Kompliment ihres Publikums wahr. Nach dem leichten, kapriziösen 2. Satz, wie auch dem tänzerischen, folkloristischem 3. Satz ernteten das Orchester, Daniel Barenboim und Solist Yefim Bronfmann, stehende Ovation  und die sicht- und hörbare Begeisterung ihres Publikums, worauf sich der Pianist mit einer Zugabe revanchierte.

Fast so berühmt, wenn nicht gar genauso ist Tchaikovskys 4. Sinfonie, die der Komponist seiner Mäzenin Nadeshda von Meck widmete. Auch hier präsentierte die Staatskapelle allerbestes. Berühmt ist diese Sinfonie für ihre schicksalshaften Fanfaren die am Anfang und innerhalb des Stücks unheilvoll-bedrohlich schmettern. Es gelang das teilweise sehr melancholische Werk mit einer Leichtigkeit zu spielen und trotzdem Gefühl und Intensität maximal zu vermitteln. Dies ist in erster Linie der außergewöhnlichen Präzision und Virtuosität der Musiker geschuldet. 

Nach dem wiederholt begeisterten Applaus nutzte Barenboim die Gelegenheit eine ganz eigene Occupymessage an das Publikum zu richten. Bekanntermaßen wird ja nicht nur der Berliner Flughafen nicht fertig, nein auch die Fertigstellung der Oper unter den Linden lässt bis auf weiteres auf sich warten. Er beschrieb, wie wohl Wasser unter dem Holz des Fundaments gefunden wurde und problematisch ist, in einer Parkgarage in der Nachbarschaft wäre sowas gar keine Frage. Final forderte er die Berliner auf: „Helft mir alle zusammen zu kämpfen gegen diese Inkompetenz“. Seine Bestätigung erhielt er 50.000-stimmig. Nicht nur hier wurde am Sonntag mal wieder sehr deutlich, dass zwischen Daniel Barenboim und den Berlinern eine ganz besondere Beziehung besteht, die nicht so einfach abgekühlt werden kann, wie der kleine Regenschauer ab dem 3. Satz der Sinfonie bewies.

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