Donnerstag, 1. Mai 2014

Der Balken im Auge



Der deutsche Bundespräsident schwingt in der Türkei die eurodemokratische Keule; der türkische Premierminister schäumt vor Wut; die türkische Opposition jubelt; die deutsche Presse ist begeistert, die deutsche Bundesregierung segnet es ab. Und sonst?
Die hiesigen medialen Kassandrarufe verkünden bereits die Eiszeit im deutsch-türkischen Dialog. Die türkische Opposition spricht inzwischen von Gauck als Opportunisten, denn, um es mit den Worten der ägyptischen Sängerin Dalida zu sagen: „Paroles, Paroles“- „Worte, nur Worte“, denen keine Taten folgen. Was also bleibt pragmatisch außer einem klaren Zeichen gen Ankara? Nicht viel…
Widersprechen muss man allerdings dem cholerischen Ausbruchs Erdogans, wenn er Gauck unterstellt, sich immer noch für einen Pastor zu halten. Denn wie heißt es bei Matthäus 7,4: „Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?“ Angesichts des fragwürdigen Vorgehens der staatlichen Exekutive zuletzt am Berliner Oranienplatz, im Hamburger Schanzenviertel und Stuttgart 21 sind Gaucks Anmerkungen über die staatliche Gewalt in der Türkei nur hoffärtig zu nennen.
Auch der Vorwurf der Beschneidung von Presse- und Meinungsfreiheit ist angesichts staatlicher medialer Intervention via öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seiner bisweilen fragmentarischen Berichterstattung sehr überheblich. Es bleibt die Frage, ob die Bundesrepublik jene Feuerprobe bestünde, um sich noch als Demokratieexporteur und Lehrmeister gerechter Staatenlenkung aufspielen zu dürfen. Es ist keine Frage der Dimensionen, sondern allein der Tatsache.
Es ist eine Besonderheit der deutschen Diplomatie angesichts der Historie bei allem Selbstbewusstsein Sensibilität walten lassen zu müssen Die Konsequenzen der Kritik hiervon abzuweichen erfuhr Martin Schulz nach seiner Rede im Knesset im Februar 2014. Der Bundespräsident gedenkt in seiner Rede der türkischstämmigen Opfer der NSU. Wie kann der oberste Politiker der Bundesrepublik das Vorgehen der türkischen Staatsorgane verurteilen angesichts der Vielzahl von Opfern und traumatisierten Angehörigen die dank der mangelhaften Ermittlungsarbeit deutscher Staatsorgane zusätzlich unter Verdacht gerieten?
Wichtig ist, dass diese Phrasen ohne nachfolgende Aktion Ausdruck einer kurzsichtigen Symbolpolitik sind. Vielleicht ist es zu viel des Pessimismus, aber man kann erwarten, dass die Worte und der darauffolgende Eklat Erdogan in seinem antieuropäischen Kurs nur noch bestärken. Auch die türkische Bevölkerung wird von den hohlen Worten schlussendlich enttäuscht sein.
Zuletzt muss einfach gesehen werden, dass sich Gauck ganz simpel daneben benimmt und dem Gastrecht zuwider läuft. Man lästert nicht über das Kaffeeservice, wenn man noch an der Kuchentafel sitzt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen