der Teeboy stellte das
erste dampfende Glas Tee neben mein gerade hochfahrendes Notebook. Hungrig
schielte ich auf die Dose mit den Ingwer-Karamellkeksen in seiner Hand, ich
hatte seit dem gestrigen Mittagessen nichts mehr gegessen und geschlafen hatte
ich auch nicht viel. Er verstand, hielt mir die Blechdose hin und ich stapelte
einen kleinen Kekshaufen auf meine Untertasse.
Die Verlegerin saß hinter ihrem Schreibtisch mir gegenüber.
Vor ihr stand ebenfalls ein Glas Tee. Mit einem Keks zwischen ihren Fingern las
sie die Zeitung. Während sie abbiss, beugte sie sich darüber und fing auf
einmal schallend an zu lachen.
Sie winkte mich zu sich und zeigte auf das Titelbild. Es
zeigte ein Meer von Gläubigen beim Freitagsgebet. Ich schaute sie fragend an,
doch sie feixte nur und sah mich über ihre Brille hinweg an. „In welche
Richtung beten sie? Manchmal denke ich, dass die Zeitungsredakteure die Manipulation
extra so offensichtlich machen, damit der Leser die vertuschte Wahrheit erkennt.“
Die Menschenmasse, die hier einträchtig betete, schaute auf
den Perspektivebenen in verschiedene Richtungen, statt einheitlich gen Mekka.
Jemand kam die Treppe hochgerannt. Die kleine Angestellte zeigte
aufgeregt den Kolleginnen ihr geschwollenes Bein. Milizen wären in die U-Bahn eingedrungen und hätten den Fahrgästen mit
Knüppeln auf die Beine geschlagen. Bei der Information, dass die Milizen
keine Landsleute waren, sondern palästinensisches Arabisch sprachen, wurde ich
hellwach.
Während ich meine Eltern anrief und newstrunken anwies, meinem
Redakteur die Meldung weiterzugeben, verfinsterte sich die Miene der Verlegerin
„Beende sofort das Gespräch!“. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und legte ihren
Zeigefinger auf die Lippen. Leise nahm sie den Telefonhörer und führte ihn zum
Ohr. Nach ein paar Sekunden legte sie auf und ging zu ihrem Schreibtisch, um
sich wieder ihren Korrespondenzen zu widmen. Dabei hielt sie mit ihrer linken
Hand die Augen bedeckt, während sie sich über einen Brief beugte.
In meinem Kopf stolperten die Gedanken übereinander hinweg,
ich starrte sie nur an. Irgendwann bemerkte sie meinen Blick, seufzte, faltete
ihre Hände und betrachtete ihre manikürten Nägel: „Wenn nicht innerhalb der
nächsten halben Stunde jemand kommt, um uns zu verhaften, ist alles gut
gegangen. Ich dachte, du möchtest deinen Eltern sagen, dass es dir gut geht.
Wenn du deine Nachrichten los werden willst, dann sollen sie hier anrufen. Nur herausgehende
Telefonate werden abgehört. Bei allem was du tust -denke nach! Jetzt bleibt
abzuwarten…Los, übersetze, das ist das Beste, was du tun kannst!“
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Fassungslos blieb ich
vor dem Rechner sitzen.
„Übersetze!“
Ich griff zum Glas neben meinem Schreibtisch und führte es
zum Mund, obwohl ich mir dabei die Finger verbrannte; ich hatte nicht bemerkt,
dass es ersetzt worden war. Ich fing an, mich zu entspannen, der vorher
verkrampfte Rücken schmerzte. Meine Schläfen pochten. "Ich denke, ich
möchte das Praktikum vorzeitig beenden. Es ist unabsehbar, wie weit die
Situation noch eskaliert.“
Auch sie nahm einen Schluck Tee:„Wenn Gott möchte, dass du
stirbst, dann stirbst du hier genauso wie bei deinen Eltern zuhause.
Übersetze!“
Vor dem Mittagessen kam die kleine Angestellte an meinen
Schreibtisch. In ihren Händen hielt sie ein grünes Seidenband. Sie überprüfte,
ob es um mein Handgelenk passen würde. Ich versteckte das Band sorgsam in
meinem Portemonnaie.
Ich schaute aus dem Fenster neben meinem Schreibtisch, die
Sonne hing tief und die belebte Hauptstraße glühte im goldenen Schein. Der Verkehr
war verschwunden. Kein Moped fuhr, die Taxis
hupten nicht; nicht einmal Fußgänger waren in der sonst üblichen Menge zu
sehen. Ein Polizeiwagen fuhr vorbei, dann noch einer. Aus der Distanz begann
man Tumulte zu hören. Menschen skandierten wieder.
Plötzlich fuhr ein Korso an schweren Motorrädern vorbei,
fünfzig, hundert Maschinen, alle gepanzert, alle gleicher Bautyp in mattem
Tiefschwarz. Auch die Fahrer darauf wirkten durch ihre imposante
tiefmattschwarze Panzerung wie ein Heer böser Power Ranger. Sie fuhren in
Richtung des Lärms. Ihre geschulterten Gewehre entgingen mir nicht.
Es knallte; was es war, wusste ich nicht. Der Straßenkampf schien
in unsere Richtung zu kommen. Ich schaute wieder aus dem Fenster; auch die
Verlegerin war aufgestanden und rieb sich ihr Kinn.
Menschen liefen unter dem Fenster durcheinander. Schreie
wurden laut. Maschinen heulten auf. Durch die geschlossenen Fensterscheiben
hindurch hinterließ die Druckwelle der Detonation eines Molotow Cocktails eine
leichte Gänsehaut. Schüsse - ob in die Luft oder in die Menge konnte ich nicht
sagen. Durch das Fenster musste ich zuschauen, wie die Milizen mit
Schlagstöcken auf Demonstranten einhieben. Die Menge trieb auseinander, nur der
Kern war nach wie vor von den Milizen eingekesselt, die Abstand haltend den Fluchtweg versperrten.
„Öffnet die Türen und lasst die Verletzten rein!“
Die Stahltüren wurden geöffnet und zwanzig, dreißig
Demonstranten, Jugendliche, Studenten, Erwachsene strömten ins Lager. Etliche
waren rußverschmiert, hatten Prellungen und Abschürfungen. Der Teeboy bemühte
sich die Türen gerade wieder zu schließen, als ein Junge wie unter Alkohol auf
den Eingang zuwankte. Sofort kamen zwei Mädchen herangeeilt, die ihn stützten. Die
Türen wurden hinter ihnen geschlossen. Die Verlegerin schaute mich an:
„Geh sofort nach oben! Es müssen nicht so viele wissen, dass
du hier bist.“
Ich gehorchte, ging wieder in den Büroraum und schloss die
Tür hinter mir. Stille umschloss mich; das Licht war ausgeschaltet. Die Sonne
des späten Nachmittags drang trübe durch die Fenster und tauchte den großen Raum
in ein mattes Dämmerlicht. Ich setzte mich wieder ans Notebook, ich hatte
keinen Sinn für Übersetzungen. Stattdessen nahm ich mir ein Glas Tee und
wanderte ziellos durch die Räume. Im Lagerraum der obersten Etage setzte ich
mich auf Kartons und öffnete das Fenster. In der Hosentasche fand ich
Zigaretten. Ich rauchte zum Fenster hinaus. Brandgeruch lag in der Luft.
Ich drückte die Zigarette aus und kehrte in den Büroraum zurück.
Die Abwesenheit jeglichen Geschehens drückte noch mehr auf mein Gemüt und mich
überfiel eine Rastlosigkeit, wie sie wohl Raubkatzen hinter Gitterstäben haben
müssen. Obwohl ich oben bleiben sollte, ging ich zum Kühlschrank, nahm eine
Flasche Wasser heraus und ergriff einen Packen Papierhandtücher, um mit diesen
Alibis wieder hinunter zu gehen.
Viele Augenpaare starrten mich an, als ich die Treppe
herunterkam. Die Verlegerin kauerte auf dem Boden und drehte sich zu mir um.
Vor ihr lag der verletzte junge Mann am Boden.
„Kannst du Erste Hilfe?“
Mein letzter Erste-Hilfe Kurs war sechs Jahre her, damals
bei der Führerscheinprüfung. Ich nickte stumm, ging zu ihr hin und kniete mich
neben sie vor den Verwundeten. Seine Augen waren verdreht, die Lider halb
gesenkt. Er atmete sehr flach. Blut lief über sein Gesicht. Zwischen seinen
schönen langen Locken erkannte ich, dass seine Fontanelle, wo die Haare am
Hinterkopf einen Wirbel bildeten, aufgeplatzt war. Sie mussten ihm gezielt
dorthin geknüppelt haben.
„Kölsche Popband, BAP: Bewusstsein, Atmung, Puls“, schoss
mir der Merksatz durch den Kopf. Atmung und Puls waren vorhanden, gut. Aber er
drohte, weg zu dämmern. Ich sprach ihn an, die Umstehenden musterten mich
irritiert, als ich begann, ihn in seiner Sprache anzureden, ob er mich hören
könnte, wie er heiße, ob es ihm sehr schlecht ginge.
Stabile Seitenlage erschien mir unsinnig. Ich fragte die
Verlegerin, ob Sie etwas zum Desinfizieren und sterile Mullbinden hätten. Der
Junge flüsterte, dass er Durst hätte. Ich hob vorsichtig seinen blutverklebten Nacken,
setzte die Flasche an seine Lippen und er trank, wobei das Meiste sein Kinn hinab
lief.
Zwei Männer wies ich an, mir dabei zu helfen, den Jungen
gegen eine Säule zu lehnen. Ein Mädchen bat ich, sich weiter mit ihm zu
unterhalten.
Die Verlegerin kam wieder und holte aus der Tasche ihres
Manteaus eine kleine Nagelschere heraus, mit der sie die Mullverpackung
aufschnitt und reichte mir diese mit der geöffneten Flasche Jodtinktur. Ich
tränkte die Mullbinde damit und tupfte damit vorsichtig den Dreck aus der
Wunde. Der junge Mann stöhnte leise. Die nächste jodgetränkte Mullbinde wurde
mir in die Hand gedrückt und ich legte sie vorsichtig auf die Wunde. Ich griff
den Packen Papierhandtücher und drückte ihn auf die Mullbinde. Ein Anderer
übernahm, ich sagte ihm, dass er mit Druck draufhalten sollte und vor allem
nicht aufhören, mit dem Verletzten zu sprechen. Ich sah ihn mir noch mal an, er
musste jünger sein als ich, bereit für seinen Willen zu sterben.
Ich richtete mich auf, Kniegelenke und Rücken schmerzten
mir. Ich atmete durch. Dann hörte ich die Martinshörner. Krankenwagen fuhren
durch die Straßen um die Verletzten aufzunehmen.
„Hört ihr das? Los, holt einen von diesen Rettungswagen
heran, er muss dringend ins Krankenhaus!“
Die Verlegerin schüttelte den Kopf.
„Er muss hier bleiben.“
Sie nahm einen der Demonstranten zu Seite und redete leise
mit ihm. Er nickte, warf den anderen einen kurzen Blick zu, öffnete vorsichtig
die Tür und verschwand.
Ich betrachtete den Verwundeten: Was konnte man noch für ihn
tun – außer ihn ins Krankenhaus zu schaffen? Die Wunde wurde gestillt, er wurde
bei Bewusstsein gehalten, er hatte zu trinken- Gut!
„Geh wieder nach oben, ich komme auch gleich.“, flüsterte
mir die Verlegerin zu. Im Badezimmer wusch ich mir Blut, Dreck und Jod von den
Händen. Ich hätte sie vorher desinfizieren oder Handschuhe tragen sollen.
Es war dunkel. Immer noch hörte man draußen die Tumulte unter
die sich inzwischen auch die allabendlichen Gott ist groß-Rufe mischten. Ich
schloss die Vorhänge und zündete eine Schreibtischlampe an.
Die Verlegerin kam und stellte sich vor mich. Unsere Augen
trafen sich. Ich atmete schwer aus und sie lächelte. „Der Junge kennt die
Familie des Verletzten. Es muss noch dunkler werden, damit sie kommen können.“
„Warum holt ihr nicht einen der Krankenwagen, es fahren hier
doch genug herum?“
Ich bekam keine Antwort.
Stattdessen sprach sie mit dem Teeboy, der gekommen war und
uns beiden jeweils ein Glas heißen Tee reichte.
„Du musst zu deinem Hotel noch kommen, schlaf dort ein bisschen
oder lies! Er wird dafür sorgen dass du mit dem Taxi dort ankommst“
Ich packte meine Tasche mit dem Notebook zusammen; meine
Knie waren weich.
Wir verabschiedeten uns und ich ging mit dem Teeboy auf die
Straße. Schaufensterscheiben waren zerstört und die Müllcontainer davor rauchten.
Der Gestank von verbranntem Plastik stach in der Nase. Wir standen an der
Fahrbahn, zehn Minuten oder auch länger. Autos fuhren wieder, aber kein
einziges Taxi.
Irgendwann gelang es ihm ein Moped anzuhalten. Zu dritt
saßen wir auf der kleinen Maschine: Vorne der Fahrer, dann ich, meine Tasche mit
dem Notebook fest umklammert und hinten auf dem Gepäckträger saß der Teeboy,
der sich an meinen Schultern festhielt. Wir fuhren die Straße hinunter, links
und rechts sah man vereinzelt kleine Trauben von Milizen auf Demonstranten
einprügelnd. Der Fahrer gestikulierte wild, doch ich konnte ihn nicht
verstehen.
Wir hielten vor dem Hotel, ich wollte dem Mann Geld geben,
doch er lehnte ab. Ich wandte mich dem Teeboy zu: „Das ist zu gefährlich für
dich wieder den Weg zurück zu gehen. Wir schauen, ob wir hier für dich ein
Zimmer bekommen, im schlimmsten Fall schläfst du bei mir, das kriegen wir auch
noch hin.“
Er sah mich verständnislos an. „Meine Kinder haben Angst und
meine Frau, ich muss zu ihnen.“ Ich zuckte zusammen: wenn uns was passiert
wäre, dann hätte seine Familie keinen Vater mehr, nur weil er mich ins Hotel
bringen sollte! Der Eingang war durch das Gitterrollo bereits verbarrikadiert,
wir mussten klingeln. Der Portier kam, sah mich durch das Gitter und ließ es
hoch. Ich drückte den Teeboy zum Abschied, bedankte mich und sagte ihm wie sehr
ich dafür beten würde, dass er gesund zu seiner Familie kommt.
Ich ging die Treppe hoch auf mein Zimmer. Auf meinem Balkon
zündete ich mir eine Zigarette an. Noch immer roch die Luft brenzlig.
Inzwischen wurden aus den Gott ist groß-Rufen ein ganzer Chor, der trotzig in
den Abend brüllte. Über die Brüstung hinweg konnte ich an den
gegenüberliegenden Gebäuden beobachten, wie von unten die Fassaden mit
Taschenlampen angestrahlt wurden. In einiger Entfernung knallten wieder Schüsse.
Einzelne Rotten liefen über die Außengänge in den einzelnen Etagen an Wohnungen
vorbei.
Ich trat die Zigarette aus; ich erschauerte. Im Zimmer zog
ich die Gardinen zu und stellte die Klimaanlage an. Schwerfällig begann sie zu
rumpeln. Ich legte mich aufs Bett. Wie so oft war der Handyempfang
unterbrochen. Ich schloss die Augen und versuchte zur ruhe zu kommen.
Ich musste tatsächlich ein bisschen geschlafen haben, denn
das schrillende Haustelefon riss mich aus tiefstem Frieden. Es hatte noch nie
geklingelt. Der Portier meldete sich und befahl mir ziemlich barsch, die
Klimaanlage abzustellen, da mein Nachbar sonst nicht schlafen könne bei dem
Lärm. Ich stand auf und schaltete die Klimaanlage ab. Binnen einer Minute war
es im Zimmer wieder stickig, sodass ich die Balkontür einen Spalt öffnete.
Im Halbschlaf vermischte sich der Lärm von draußen zu einem
Stimmengemurmel, ähnlich dem vor einer Opernaufführung. Immer deutlicher hörte
ich Getuschel und Geflüster. Eine einzelne Stimme wurde zwischen anderen
deutlich. Sie schien immer dasselbe zu wiederholen, erst sehr undeutlich, dann
immer klarer und an mich gerichtet: „Du wolltest hierher. Du bist freiwillig
hier. Sieh jetzt selber zu, wie du das durchstehst!“
Ich riss die Augen auf und schaltete die Nachttischlampe an.
An der Zimmerdecke suchte ich nach den Stimmen, doch da war nichts. Ich hielt
mir die Ohren zu, die Stimmen waren immer noch da.
„Du bildest dir die Stimmen ein, sie sind nur in deinem
Kopf“, dachte ich durch die Stimmen hindurch. Ich nestelte in meiner
Jeanstasche die Zigaretten hervor und stolperte zum Balkon. Hektisch zündete
ich mir eine an. Mein Herz pochte. Einen Zug lang atmete ich tief durch. Die
Stimmen verstummten und wurden wieder zum Lärm der Stadt.
„Wrong!“, dröhnte Depeche Mode durch die Kopfhörer, als ich
am nächsten Morgen auf die Straße vor das Hotel trat. Außer der zersplitterten
Glasscheibe der Bank gegenüber zeugte nichts mehr von den Ausschreitungen des
vorigen Abends. Die Morgensonne brannte in meinen Augen.
Im Verlag trank ich heißen Tee und obwohl ich Hunger hatte,
verspürte ich keinen Appetit auf die Kekse, die sich auf einer Untertasse vor
mir stapelten. Die Verlegerin betrat das Büro und lächelte mir milde zu.
„Wie geht es dem verletzten Jungen, haben sie ihn gestern
abgeholt?“, fragte ich.
Der Teeboy warf mir einen scheuen Blick zu, nachdem er einen
Tee vor sie abgestellt hatte. Sie nahm zwei Stück Zucker aus der Dose ins Glas
und rührte bedächtig um. Dann schaute sie mich an.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen