Sonntag, 28. Dezember 2014

Das grüne Seidenband




„Mersi“
der Teeboy  stellte das erste dampfende Glas Tee neben mein gerade hochfahrendes Notebook. Hungrig schielte ich auf die Dose mit den Ingwer-Karamellkeksen in seiner Hand, ich hatte seit dem gestrigen Mittagessen nichts mehr gegessen und geschlafen hatte ich auch nicht viel. Er verstand, hielt mir die Blechdose hin und ich stapelte einen kleinen Kekshaufen auf meine Untertasse.
Die Verlegerin saß hinter ihrem Schreibtisch mir gegenüber. Vor ihr stand ebenfalls ein Glas Tee. Mit einem Keks zwischen ihren Fingern las sie die Zeitung. Während sie abbiss, beugte sie sich darüber und fing auf einmal schallend an zu lachen.
Sie winkte mich zu sich und zeigte auf das Titelbild. Es zeigte ein Meer von Gläubigen beim Freitagsgebet. Ich schaute sie fragend an, doch sie feixte nur und sah mich über ihre Brille hinweg an. „In welche Richtung beten sie? Manchmal denke ich, dass die Zeitungsredakteure die Manipulation extra so offensichtlich machen, damit der Leser die vertuschte Wahrheit erkennt.“
Die Menschenmasse, die hier einträchtig betete, schaute auf den Perspektivebenen in verschiedene Richtungen, statt einheitlich gen Mekka.
Jemand kam die Treppe hochgerannt. Die kleine Angestellte zeigte aufgeregt den Kolleginnen ihr geschwollenes Bein. Milizen wären in die U-Bahn eingedrungen und hätten den Fahrgästen mit Knüppeln auf die Beine geschlagen. Bei der Information, dass die Milizen keine Landsleute waren, sondern palästinensisches Arabisch sprachen, wurde ich hellwach.
Während ich meine Eltern anrief und newstrunken anwies, meinem Redakteur die Meldung weiterzugeben, verfinsterte sich die Miene der Verlegerin „Beende sofort das Gespräch!“. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Leise nahm sie den Telefonhörer und führte ihn zum Ohr. Nach ein paar Sekunden legte sie auf und ging zu ihrem Schreibtisch, um sich wieder ihren Korrespondenzen zu widmen. Dabei hielt sie mit ihrer linken Hand die Augen bedeckt, während sie sich über einen Brief beugte.
In meinem Kopf stolperten die Gedanken übereinander hinweg, ich starrte sie nur an. Irgendwann bemerkte sie meinen Blick, seufzte, faltete ihre Hände und betrachtete ihre manikürten Nägel: „Wenn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde jemand kommt, um uns zu verhaften, ist alles gut gegangen. Ich dachte, du möchtest deinen Eltern sagen, dass es dir gut geht. Wenn du deine Nachrichten los werden willst, dann sollen sie hier anrufen. Nur herausgehende Telefonate werden abgehört. Bei allem was du tust -denke nach! Jetzt bleibt abzuwarten…Los, übersetze, das ist das Beste, was du tun kannst!“
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Fassungslos blieb ich vor dem Rechner sitzen.
„Übersetze!“
Ich griff zum Glas neben meinem Schreibtisch und führte es zum Mund, obwohl ich mir dabei die Finger verbrannte; ich hatte nicht bemerkt, dass es ersetzt worden war. Ich fing an, mich zu entspannen, der vorher verkrampfte Rücken schmerzte. Meine Schläfen pochten. "Ich denke, ich möchte das Praktikum vorzeitig beenden. Es ist unabsehbar, wie weit die Situation noch eskaliert.“
Auch sie nahm einen Schluck Tee:„Wenn Gott möchte, dass du stirbst, dann stirbst du hier genauso wie bei deinen Eltern zuhause. Übersetze!“
Vor dem Mittagessen kam die kleine Angestellte an meinen Schreibtisch. In ihren Händen hielt sie ein grünes Seidenband. Sie überprüfte, ob es um mein Handgelenk passen würde. Ich versteckte das Band sorgsam in meinem Portemonnaie.

Ich schaute aus dem Fenster neben meinem Schreibtisch, die Sonne hing tief und die belebte Hauptstraße glühte im goldenen Schein. Der Verkehr  war verschwunden. Kein Moped fuhr, die Taxis hupten nicht; nicht einmal Fußgänger waren in der sonst üblichen Menge zu sehen. Ein Polizeiwagen fuhr vorbei, dann noch einer. Aus der Distanz begann man Tumulte zu hören. Menschen skandierten wieder.
Plötzlich fuhr ein Korso an schweren Motorrädern vorbei, fünfzig, hundert Maschinen, alle gepanzert, alle gleicher Bautyp in mattem Tiefschwarz. Auch die Fahrer darauf wirkten durch ihre imposante tiefmattschwarze Panzerung wie ein Heer böser Power Ranger. Sie fuhren in Richtung des Lärms. Ihre geschulterten Gewehre entgingen mir nicht.
Es knallte; was es war, wusste ich nicht. Der Straßenkampf schien in unsere Richtung zu kommen. Ich schaute wieder aus dem Fenster; auch die Verlegerin war aufgestanden und rieb sich ihr Kinn.
Menschen liefen unter dem Fenster durcheinander. Schreie wurden laut. Maschinen heulten auf. Durch die geschlossenen Fensterscheiben hindurch hinterließ die Druckwelle der Detonation eines Molotow Cocktails eine leichte Gänsehaut. Schüsse - ob in die Luft oder in die Menge konnte ich nicht sagen. Durch das Fenster musste ich zuschauen, wie die Milizen mit Schlagstöcken auf Demonstranten einhieben. Die Menge trieb auseinander, nur der Kern war nach wie vor von den Milizen eingekesselt, die Abstand  haltend den Fluchtweg versperrten.
„Öffnet die Türen und lasst die Verletzten rein!“
Die Stahltüren wurden geöffnet und zwanzig, dreißig Demonstranten, Jugendliche, Studenten, Erwachsene strömten ins Lager. Etliche waren rußverschmiert, hatten Prellungen und Abschürfungen. Der Teeboy bemühte sich die Türen gerade wieder zu schließen, als ein Junge wie unter Alkohol auf den Eingang zuwankte. Sofort kamen zwei Mädchen herangeeilt, die ihn stützten. Die Türen wurden hinter ihnen geschlossen. Die Verlegerin schaute mich an:
„Geh sofort nach oben! Es müssen nicht so viele wissen, dass du hier bist.“
Ich gehorchte, ging wieder in den Büroraum und schloss die Tür hinter mir. Stille umschloss mich; das Licht war ausgeschaltet. Die Sonne des späten Nachmittags drang trübe durch die Fenster und tauchte den großen Raum in ein mattes Dämmerlicht. Ich setzte mich wieder ans Notebook, ich hatte keinen Sinn für Übersetzungen. Stattdessen nahm ich mir ein Glas Tee und wanderte ziellos durch die Räume. Im Lagerraum der obersten Etage setzte ich mich auf Kartons und öffnete das Fenster. In der Hosentasche fand ich Zigaretten. Ich rauchte zum Fenster hinaus. Brandgeruch lag in der Luft.
Ich drückte die Zigarette aus und kehrte in den Büroraum zurück. Die Abwesenheit jeglichen Geschehens drückte noch mehr auf mein Gemüt und mich überfiel eine Rastlosigkeit, wie sie wohl Raubkatzen hinter Gitterstäben haben müssen. Obwohl ich oben bleiben sollte, ging ich zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und ergriff einen Packen Papierhandtücher, um mit diesen Alibis wieder hinunter zu gehen.
Viele Augenpaare starrten mich an, als ich die Treppe herunterkam. Die Verlegerin kauerte auf dem Boden und drehte sich zu mir um. Vor ihr lag der verletzte junge Mann am Boden.
„Kannst du Erste Hilfe?“
Mein letzter Erste-Hilfe Kurs war sechs Jahre her, damals bei der Führerscheinprüfung. Ich nickte stumm, ging zu ihr hin und kniete mich neben sie vor den Verwundeten. Seine Augen waren verdreht, die Lider halb gesenkt. Er atmete sehr flach. Blut lief über sein Gesicht. Zwischen seinen schönen langen Locken erkannte ich, dass seine Fontanelle, wo die Haare am Hinterkopf einen Wirbel bildeten, aufgeplatzt war. Sie mussten ihm gezielt dorthin geknüppelt haben.
„Kölsche Popband, BAP: Bewusstsein, Atmung, Puls“, schoss mir der Merksatz durch den Kopf. Atmung und Puls waren vorhanden, gut. Aber er drohte, weg zu dämmern. Ich sprach ihn an, die Umstehenden musterten mich irritiert, als ich begann, ihn in seiner Sprache anzureden, ob er mich hören könnte, wie er heiße, ob es ihm sehr schlecht ginge.
Stabile Seitenlage erschien mir unsinnig. Ich fragte die Verlegerin, ob Sie etwas zum Desinfizieren und sterile Mullbinden hätten. Der Junge flüsterte, dass er Durst hätte. Ich hob vorsichtig seinen blutverklebten Nacken, setzte die Flasche an seine Lippen und er trank, wobei das Meiste sein Kinn hinab lief.
Zwei Männer wies ich an, mir dabei zu helfen, den Jungen gegen eine Säule zu lehnen. Ein Mädchen bat ich, sich weiter mit ihm zu unterhalten.
Die Verlegerin kam wieder und holte aus der Tasche ihres Manteaus eine kleine Nagelschere heraus, mit der sie die Mullverpackung aufschnitt und reichte mir diese mit der geöffneten Flasche Jodtinktur. Ich tränkte die Mullbinde damit und tupfte damit vorsichtig den Dreck aus der Wunde. Der junge Mann stöhnte leise. Die nächste jodgetränkte Mullbinde wurde mir in die Hand gedrückt und ich legte sie vorsichtig auf die Wunde. Ich griff den Packen Papierhandtücher und drückte ihn auf die Mullbinde. Ein Anderer übernahm, ich sagte ihm, dass er mit Druck draufhalten sollte und vor allem nicht aufhören, mit dem Verletzten zu sprechen. Ich sah ihn mir noch mal an, er musste jünger sein als ich, bereit für seinen Willen zu sterben.
Ich richtete mich auf, Kniegelenke und Rücken schmerzten mir. Ich atmete durch. Dann hörte ich die Martinshörner. Krankenwagen fuhren durch die Straßen um die Verletzten aufzunehmen.
„Hört ihr das? Los, holt einen von diesen Rettungswagen heran, er muss dringend ins Krankenhaus!“
Die Verlegerin schüttelte den Kopf.
„Er muss hier bleiben.“
Sie nahm einen der Demonstranten zu Seite und redete leise mit ihm. Er nickte, warf den anderen einen kurzen Blick zu, öffnete vorsichtig die Tür und verschwand.
Ich betrachtete den Verwundeten: Was konnte man noch für ihn tun – außer ihn ins Krankenhaus zu schaffen? Die Wunde wurde gestillt, er wurde bei Bewusstsein gehalten, er hatte zu trinken- Gut!
„Geh wieder nach oben, ich komme auch gleich.“, flüsterte mir die Verlegerin zu. Im Badezimmer wusch ich mir Blut, Dreck und Jod von den Händen. Ich hätte sie vorher desinfizieren oder Handschuhe tragen sollen.
Es war dunkel. Immer noch hörte man draußen die Tumulte unter die sich inzwischen auch die allabendlichen Gott ist groß-Rufe mischten. Ich schloss die Vorhänge und zündete eine Schreibtischlampe an.
Die Verlegerin kam und stellte sich vor mich. Unsere Augen trafen sich. Ich atmete schwer aus und sie lächelte. „Der Junge kennt die Familie des Verletzten. Es muss noch dunkler werden, damit sie kommen können.“
„Warum holt ihr nicht einen der Krankenwagen, es fahren hier doch genug herum?“
Ich bekam keine Antwort.
Stattdessen sprach sie mit dem Teeboy, der gekommen war und uns beiden jeweils ein Glas heißen Tee reichte.
„Du musst zu deinem Hotel noch kommen, schlaf dort ein bisschen oder lies! Er wird dafür sorgen dass du mit dem Taxi dort ankommst“
Ich packte meine Tasche mit dem Notebook zusammen; meine Knie waren weich.
Wir verabschiedeten uns und ich ging mit dem Teeboy auf die Straße. Schaufensterscheiben waren zerstört und die Müllcontainer davor rauchten. Der Gestank von verbranntem Plastik stach in der Nase. Wir standen an der Fahrbahn, zehn Minuten oder auch länger. Autos fuhren wieder, aber kein einziges Taxi.
Irgendwann gelang es ihm ein Moped anzuhalten. Zu dritt saßen wir auf der kleinen Maschine: Vorne der Fahrer, dann ich, meine Tasche mit dem Notebook fest umklammert und hinten auf dem Gepäckträger saß der Teeboy, der sich an meinen Schultern festhielt. Wir fuhren die Straße hinunter, links und rechts sah man vereinzelt kleine Trauben von Milizen auf Demonstranten einprügelnd. Der Fahrer gestikulierte wild, doch ich konnte ihn nicht verstehen.
Wir hielten vor dem Hotel, ich wollte dem Mann Geld geben, doch er lehnte ab. Ich wandte mich dem Teeboy zu: „Das ist zu gefährlich für dich wieder den Weg zurück zu gehen. Wir schauen, ob wir hier für dich ein Zimmer bekommen, im schlimmsten Fall schläfst du bei mir, das kriegen wir auch noch hin.“
Er sah mich verständnislos an. „Meine Kinder haben Angst und meine Frau, ich muss zu ihnen.“ Ich zuckte zusammen: wenn uns was passiert wäre, dann hätte seine Familie keinen Vater mehr, nur weil er mich ins Hotel bringen sollte! Der Eingang war durch das Gitterrollo bereits verbarrikadiert, wir mussten klingeln. Der Portier kam, sah mich durch das Gitter und ließ es hoch. Ich drückte den Teeboy zum Abschied, bedankte mich und sagte ihm wie sehr ich dafür beten würde, dass er gesund zu seiner Familie kommt.
Ich ging die Treppe hoch auf mein Zimmer. Auf meinem Balkon zündete ich mir eine Zigarette an. Noch immer roch die Luft brenzlig. Inzwischen wurden aus den Gott ist groß-Rufen ein ganzer Chor, der trotzig in den Abend brüllte. Über die Brüstung hinweg konnte ich an den gegenüberliegenden Gebäuden beobachten, wie von unten die Fassaden mit Taschenlampen angestrahlt wurden. In einiger Entfernung knallten wieder Schüsse. Einzelne Rotten liefen über die Außengänge in den einzelnen Etagen an Wohnungen vorbei.
Ich trat die Zigarette aus; ich erschauerte. Im Zimmer zog ich die Gardinen zu und stellte die Klimaanlage an. Schwerfällig begann sie zu rumpeln. Ich legte mich aufs Bett. Wie so oft war der Handyempfang unterbrochen. Ich schloss die Augen und versuchte zur ruhe zu kommen.
Ich musste tatsächlich ein bisschen geschlafen haben, denn das schrillende Haustelefon riss mich aus tiefstem Frieden. Es hatte noch nie geklingelt. Der Portier meldete sich und befahl mir ziemlich barsch, die Klimaanlage abzustellen, da mein Nachbar sonst nicht schlafen könne bei dem Lärm. Ich stand auf und schaltete die Klimaanlage ab. Binnen einer Minute war es im Zimmer wieder stickig, sodass ich die Balkontür einen Spalt öffnete.
Im Halbschlaf vermischte sich der Lärm von draußen zu einem Stimmengemurmel, ähnlich dem vor einer Opernaufführung. Immer deutlicher hörte ich Getuschel und Geflüster. Eine einzelne Stimme wurde zwischen anderen deutlich. Sie schien immer dasselbe zu wiederholen, erst sehr undeutlich, dann immer klarer und an mich gerichtet: „Du wolltest hierher. Du bist freiwillig hier. Sieh jetzt selber zu, wie du das durchstehst!“
Ich riss die Augen auf und schaltete die Nachttischlampe an. An der Zimmerdecke suchte ich nach den Stimmen, doch da war nichts. Ich hielt mir die Ohren zu, die Stimmen waren immer noch da.
„Du bildest dir die Stimmen ein, sie sind nur in deinem Kopf“, dachte ich durch die Stimmen hindurch. Ich nestelte in meiner Jeanstasche die Zigaretten hervor und stolperte zum Balkon. Hektisch zündete ich mir eine an. Mein Herz pochte. Einen Zug lang atmete ich tief durch. Die Stimmen verstummten und wurden wieder zum Lärm der Stadt.

„Wrong!“, dröhnte Depeche Mode durch die Kopfhörer, als ich am nächsten Morgen auf die Straße vor das Hotel trat. Außer der zersplitterten Glasscheibe der Bank gegenüber zeugte nichts mehr von den Ausschreitungen des vorigen Abends. Die Morgensonne brannte in meinen Augen.
Im Verlag trank ich heißen Tee und obwohl ich Hunger hatte, verspürte ich keinen Appetit auf die Kekse, die sich auf einer Untertasse vor mir stapelten. Die Verlegerin betrat das Büro und lächelte mir milde zu.
„Wie geht es dem verletzten Jungen, haben sie ihn gestern abgeholt?“, fragte ich.
Der Teeboy warf mir einen scheuen Blick zu, nachdem er einen Tee vor sie abgestellt hatte. Sie nahm zwei Stück Zucker aus der Dose ins Glas und rührte bedächtig um. Dann schaute sie mich an.
„Er sagte zu mir ‚Bei Ihnen bin ich sicher‘. Seine Familie hat ihn gestern spät in der Nacht abgeholt. Ein Onkel von ihm ist Arzt. Ich habe mich mit ihm unterhalten. Keiner der Rettungswagen hat je ein Krankenhaus angefahren.“

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